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Dieser Unterrichtsentwurf versucht, Homosexualität in der DDR nicht als bloße Unterdrückungs-
und Emanzipationsgeschichte zu rekonstruieren, sondern die Vielschichtigkeit und Ambiguität spezifischer Diskurse in ihrer Wirkung auf rechtliche Gegebenheiten, gesellschaftliche Wahrnehmungsprozesse und nicht zuletzt individuelle Erfahrungen Betroffener aufzuzeigen.

Abstract

Sexuelle Identitätskategorien wie Homo- und Heterosexualität sind ein Resultat interessengeleiteter Konstruktionsprozesse sowie historisch wandelbarer medizinisch-psychiatrischer Diskurse. Homosexualität in der DDR sollte nicht als bloße Unterdrückungs- und Emanzipationsgeschichte rekonstruiert werden.

Sachanalyse

Genese des Identitätskonzepts Homosexualität

Die Erkenntnis, dass sexuelle Identitätskonzepte wie Hetero-, Homo- und Bisexualität keineswegs natürliche Tatbestände, sondern vielmehr das Resultat moderner medizinisch-psychiatrischer Diskurse sind, zählt zu den zentralen Einsichten der Queer-Studies. 1

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden gleichgeschlechtliche Begehrensformen mit Sodomie gleichgesetzt und der geistlichen oder weltlichen Gerichtsbarkeit unterstellt, sexuelle Praktiken jenseits prokreativer Absichten damit aber als contra naturam gebrandmarkt. Galten in der Vormoderne insbesondere mann-männliche Sexualkontakte als nur eine Form der Unzucht unter vielen, die zudem eine freie Willensentscheidung voraussetze, bildete sich mit der um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Sexualwissenschaft allmählich ein Verständnis biologischer Determiniertheit sexuellen Begehrens heraus. Die Definitionshoheit darüber, was als normale, natürliche und insofern legitime Sexualität gelten kann, ging damit zunehmend von Theologen und Juristen auf Sexualwissenschaftler, Mediziner und Psychiater über. Die ethisch-moralische Beurteilung von Sexualität wich einer naturwissenschaftlich-biologistischen Betrachtungsweise.
Homosexualität als ‚konträre Sexualempfindung‘

Der Begriff Homosexualität wurde erstmals 1869 von Karl Maria Kertbeny gebraucht, der das Phänomen gleichgeschlechtlichen Begehrens mit einer seelischen Veranlagung zu erklären versuchte. Dass gleichgeschlechtlich begehrende Männer und Frauen von da ab als sog. ‚Ur-ninge‘ bzw. Angehörige eines ‚dritten Geschlechts‘ (K. H. Ulrichs, M. Hirschfeld) betrachtet wurden, führte zur Konstituierung des homosexuellen Identitätstypus. Zudem entspricht dies einer Naturalisierung gleichgeschlechtlichen Begehrens, das nur in Abgrenzung zur Norm, der Heterosexualität, denkbar ist. Zugleich entwickelten Gerichtsmediziner und Pathologen die Theorie, dass Homosexualität als ‚konträre Sexualempfindung‘ (C. Westphal, R. von Krafft-Ebing) betrachtet werden müsse, was mit einer Pathologisierung der Homosexualität gleichzusetzen ist. 2

Beiden Strömungen ist gemein, dass ‚Homosexualität‘ nunmehr als angeboren, als natürlich – wenn auch als krankhaft – angesehen wurde, was eine juristische Sanktionierung zunehmend fragwürdig erscheinen ließ. In der Folge kam es deshalb auch immer wieder zu neuen Vorstößen zur Abschaffung des in der BRD (!) bis in die 1990er Jahre hinein in Versatzstücken erhalten gebliebenen § 175 (RStGB, später StGB), der sexuelle Handlungen zwischen Männern seit 1871 unter Strafe stellte. Freilich änderte dies an der rechtlichen Beurteilung homosexueller Handlungen zunächst kaum etwas.
Homosexualität in der DDR

Wer sich der Geschichte der Homosexualitäten in der DDR annähert, sieht sich zunächst mit der befremdlich anmutenden Tatsache konfrontiert, dass die strafrechtliche Situation homosexuell Handelnder im totalitären SED-Regime ungleich günstiger war als in der Bundesrepublik. Während der durch die Nationalsozialisten verschärfte § 175 hier beibehalten und als grundgesetzkonform betrachtet wurde, erhielt er in der DDR seine vor 1935 gültige Fassung im Wesentlichen wieder. In der DDR wurde ‚einfache‘ Homosexualität unter Erwachsenen zudem seit 1957 kaum noch bestraft und der entsprechende Paragraph 1968, ein Jahr früher als in der BRD, aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Bis 1988 blieb allerdings § 151 StGB erhalten, der den besonderen Schutz der Jugendlichen garantieren sollte und sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen gleichen Geschlechts – erstmals wurden hier also auch gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Frauen erfasst – unter Strafe stellte. In der Bundesrepublik entfiel der entsprechende Paragraph, der sich allerdings allein auf mann-männliche Sexualkontakte erstreckte, erst im Jahr 1994. 3
Medikamentöse Behandlungsformen und Psychotherapie

Die Liberalisierung des Strafrechts in der DDR ist jedoch keineswegs als Ausdruck einer toleranten oder gar wohlwollenden gesellschaftliche Haltung gegenüber Homosexuellen zu betrachten. Schwule und Lesben wurden während der vierzig Jahre andauernden Herrschaft der SED auf vielfältige Weise diskriminiert, Homosexualität als solche tabuisiert und ganz in der Tradition Carl Westphals und Richard von Krafft-Ebings zunächst als krankhafte Störung wahrgenommen. Hierbei wurde zwischen einer ‚unheilbaren‘ Form, die u. a. auf eine Missbildung der Keimdrüsen zurückgeführt wurde, und einer lediglich durch Umwelteinflüsse bedingten Form, die etwa durch ‚Verführung‘ in Kindheit und Adoleszenz herbeigeführt worden sei, unterschieden, wobei die Heilung letzterer mittels medikamentöser Behandlungsformen und Psychotherapie in Aussicht stand. 4

Aus diesen und ähnlichen medizinisch-psychiatrischen Stellungnahmen, deren letzter Zweck nicht zuletzt darin bestand, das Ideal der sozialistischen Ehe und Familie zu stützen, wurden stets Empfehlungen für den gesellschaftlichen Umgang mit Homosexuellen abgeleitet und negative ethisch-moralische Urteile begründet. 5

Emanzipationsbewegung

Vor allem durch einen Impuls von außen formierte sich jedoch zu Beginn der 1970er Jahre in verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft eine Emanzipationsbewegung, die schließlich auch die SED-Führung zu einer Stellungnahme nötigte. Der 1973 im Fernsehen der BRD ausgestrahlte Film Rosa von Praunheims, Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, verfehlte seine Wirkung auch diesseits des Eisernen Vorhangs nicht und ermutigte die Schwulen und Lesben Ost-Berlins, die Teilnehmer der X. Weltfestspiele mit einem Transparent auf sich aufmerksam zu machen, wenngleich die Staatsmacht dies kurzerhand unterband. 6

Im Jahr darauf formierte sich die Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin (HIB), die zahlreiche Eingaben an Polizei, Volkskammer und andere Institutionen richtete und bis zur Erteilung eines Versammlungsverbotes im Jahr 1978 im Keller des Gründerzeitmuseums der stadtweit bekannten Charlotte von Mahlsdorf zusammenkam. 7 Auch wenn die Gruppe daraufhin zerfiel, ließen sich die berechtigten Interessen homosexueller Männer und Frauen nicht länger übergehen, zumal diese sich unter dem Schutzdach der Kirche zu organisieren begannen, der einzigen Großorganisation also, die sich nicht in die sozialistische Gesellschaft integrieren ließ und damit ohnehin eine ständige Bedrohung für die Staatsmacht darstellte. 8

Unter der Federführung Eduard Stapels wurde 1982 der erste Arbeitskreis Homosexualität der Evangelischen Studentengemeinde in Leipzig gegründet; weitere Kreise innerhalb der Evangelischen Kirche folgten 1983 DDR-weit. Auch diesen Gruppen ging es in erster Linie darum, die Probleme Homosexueller sichtbar zu machen, Informationen für Interessierte bereitzuhalten und damit vielfältige Diskriminierungsfelder abzubauen. 9 Darüber hinaus formierten sich in Berlin auch außerhalb der Kirche diverse Schwulen- und Lesbeninitiativen, die von einer der ersten Lesbenaktivistinnen in der DDR, Ursula Sillge, angeführt wurden. Obschon diese Gruppierungen nicht unter dem Schutzdach der Kirchen standen und sich des-halb vor eine Vielzahl bürokratischer Hürden gestellt sahen, gelang es ihnen 1987 doch den als Freizeit- und Beratungszentrum fungierenden Sonntags-Club zu gründen. Die in dieser Gruppe organisierten Schwulen und Lesben erblickten gemäß ihres Selbstverständnisses, staatstreue Bürger zu sein, in der Artikulation und Durchsetzung ihrer Interessen nicht etwa einen Angriff auf die sozialistische Ordnung, sondern im Gegenteil vielmehr einen Beitrag zu ihrer Festigung und Stabilisierung. 10

Weitere Gründungen kirchenunabhängiger Clubs für Homosexuelle in anderen Städten (Rosa-Linde in Leipzig) sowie eine Anordnung, monatliche Informationsveranstaltungen zum Thema Homosexualität in den Jugendeinrichtungen der DDR durchzuführen, folgten. Zugleich setzte eine vermehrte journalistische Aufarbeitung der Thematik in diversen Magazinen und Journalen sowie Diskussionen über die Position homosexueller Menschen im Sozialismus auf wissenschaftlicher und politischer Ebene ein. Die Abschaffung der strafrechtlichen Diskriminierung 1988 kann insofern als Indiz für einen Wandel in der Wahrnehmung der Homosexualitäten in der DDR, als Signum der Enttabuisierung und vorsichtigen Toleranz verstanden werden. Wenngleich offen bleiben muss, ob diese Entwicklung ausschließlich auf die Bemühungen der schwulen und lesbischen Aktivist_innen in Kirche und Gesellschaft zurückzuführen ist, so ist doch festzuhalten, dass es gerade ihrem Engagement zu verdanken ist, dass ein Öffnung des wissenschaftlich-politischen Diskurses überhaupt zustande kam.

  1. Vgl. Degele, Nina: Gender/Queer Studies. Eine Einführung. Paderborn 2008, S. 84-88. Grundlegend hierfür sind die Arbeiten des französischen Philosophen und Historikers Michel Foucaults. Siehe ders.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Macht. Frankfurt a. M. 1983. In diesem Zusammenhang sei außerdem auf Hegemöller verwiesen, der aufzeigt, dass die Entwicklungsstränge hin zur homosexuellen Identitätskategorie weit komplexer ausgefallen und insofern wesentlich differenzierter zu betrachten sei, als Foucault dies in seiner grundlegenden Studie getan habe. Vgl. Hegemöller, Bernd-Ulrich: Von der ‚stummen Sünde‘ zum ‚Verschwinden der Homosexualität’. Zuschreibungen und Identitäten. in: Setz, Wolfram (Hg.): Die Geschichte der Homosexualitäten und die schwule Identität an der Jahrtausendwende. Eine Vortragsreihe aus Anlaß des 175. Geburts-tags von K. H. Ulrichs. Berlin 2000, S. 13-42.
  2. Vgl. Hegemöller (2000): Von der ‚stummen Sünde‘, S. 24-31.
  3. Vgl. Thinius, Bert: Erfahrungen schwuler Männer in der DDR und in Deutschland Ost, in: Wolfram Setz (Hg.): Homosexualität in der DDR, Materialien und Meinungen. Hamburg 2006, S. 13-17.
  4. Vgl. Thinius (2006), S. 17-20.
  5. So empfahl Kurt Bach in seiner Geschlechtererziehung in der sozialistischen Oberschule etwa, man „sollte sich nicht mit Homosexuellen befreunden oder ihre Gesellschaft aufsuchen“. Auch hier geht der Autor von einem vermeintlichen Gefährdungspotenzial homosexueller Männer aus, die Jugendliche verführen könnten. Siehe hierzu: Bach, Kurt: Geschlechterziehung in der sozialistischen Oberschule. Berlin 1974, S. 255 f.
  6. Vgl. Thinius (2006), S. 22.
  7. Vgl. Thinius (2006), S. 22 f.
  8. Vgl. Peter Maser: Die Kirchen in der DDR, Bonn 2000, S. 17.
  9. Vgl. Thinius (2006), S. 38-46.
  10. Vgl. Sillge, Ursula: Un-sichtbare Frauen. Lesben und ihre Emanzipation in der DDR. Berlin 1991, S. 99-103 sowie Thinius (2006), S. 46-49.